Get Shit Done — obwohl Du in einem Konzern arbeitest — mit Martin Siebke

Sebastian van Bürk
29 min readAug 19, 2020

12 August, 2020

Episode 10 — Audiolänge: 54:45

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In einem Konzern arbeiten — und trotzdem Dinge verändern? Viele junge Menschen steigen nach ihrem Studium oder auch nach einigen Jahren Berufserfahrung in einem großen Unternehmen ein, mit einem tollen Drive, hochmotiviert, die Projekte und Produkte des Unternehmens voranzutreiben, mit großer Lust, Teil der unternehmerischen Entwicklung zu sein — Doch dann, nach nur wenigen Jahren, ist dieser Enthusiasmus abgenutzt. Sie funktionieren nur noch genauso wie die anderen Kollegen und befolgen Anweisungen, ohne diese zu hinterfragen.

Vielleicht kennst auch Du dieses Problem aus Deinem beruflichen Umfeld. Es gibt natürlich Menschen, die liebend gerne in einem Konzern arbeiten wollen.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Sichere Arbeitsstelle, gutes Gehalt, Beförderungsmöglichkeiten. Jedoch hatten wir ja schon in meiner Podcast-Folge von letzter Woche „Wie Du Deinen Arbeitgeber attraktiv für neue Mitarbeiter machst — Millennial Marketing“ festgestellt, dass die Menschen, denen diese Vorteile wichtig sind, so langsam ins Alter kommen und Platz für die Generation Y machen müssen. Die Menschen dieser Generation, den Millennials, reichen Sicherheit und Geld nicht aus. Sie suchen nach dem Sinn ihrer Tätigkeit, sie möchten sich mit dem Unternehmen, für das sie arbeiten, und deren Produkten identifizieren und etwas bewegen — Veränderungen schaffen. Wenn sie das dann in einem großen Unternehmen versuchen, stoßen sie häufig auf Granit und geben nach einigen Versuchen demotiviert auf.

Das muss aber nicht sein.
In dieser Podcast-Folge habe ich Martin Siebke zu Gast. Er hat viel Erfahrung damit, für verschiedene Unternehmen Software zu entwickeln und einzuführen und kennt sich damit aus, wie man in einem Konzern arbeiten kann und trotzdem Veränderungen durchsetzen kann.

Mir hat das Gespräch großen Spaß gemacht. Ich hoffe, Dir auch.

In einem Konzern arbeiten — und trotzdem Veränderungen schaffen

Sebastian:
Hallo und herzlich Willkommen zu dieser Folge des Guerrilla Coach Podcasts. Heute mit einer Spezialfolge. Bisher habe ich das Ding immer alleine aufgenommen und heute habe ich zum ersten Mal jemanden hier, der auf den Podcast aufmerksam geworden ist und vorgeschlagen hat, mal miteinander zu quatschen. Ich glaube, es passt super und freue mich, heute Martin Siebke hier begrüßen zu dürfen.

Martin, erzähle uns von dir. Wer bist Du? Woher kennen wir uns?

Martin:
Sehr gerne. Ich habe mich gerade gefragt, woher wir uns eigentlich kennen. Das könnten zwei Dinge sein. Entweder war es tatsächlich eine Vorlesung, die wir zusammen besucht haben, oder es war im Local Committee von AIESEC in Essen. Weißt du das noch?

Sebastian:
Gute Frage. Ich weiß es auch gar nicht mehr so genau. Ist auf jeden Fall etwas länger her. Wir müssen ja jetzt auch nicht über Alter reden. Aber das Studium liegt ein bisschen länger zurück. Ich tendiere zu AIESEC.

Martin:
Das könnte sein. Na ja, grundsätzlich mal zu der Frage „Wer bin ich?“ Das ist eine sehr philosophische Frage. Ich beantworte sie mal sehr pragmatisch. Mein Name ist Martin Siebke. Ich bin vom Studium und meiner Ausbildung her ein sehr IT-naher Mensch und habe in den letzten Jahren viel Zeit damit verbracht, für unterschiedliche Unternehmen Software zu entwickeln, Software einzuführen, gerade auch speziell im Bereich Integration zwischen Firmen und mit unterschiedlichsten Technologien und in unterschiedlichsten Bereichen.

Sebastian:
Sehr, sehr breit und sehr generisch, aber genau so etwas Ähnliches, was ich mache. Studiengang ähnlich. Irgendwas mit Computern. Und dann haben wir doch irgendwie ein bisschen andere Wege eingeschlagen und haben nicht den Softwareentwickler 1.1. gemacht, sondern sind so ein bisschen in der Unternehmenswelt unterwegs.

Du hast also im Unternehmens-Kontext, im Konzern, im Corporate, einiges an Erfahrungen gesammelt, und da haben wir uns vorher schon ausgetauscht im Vorgespräch. Das klingt unglaublich spannend. Dann starte doch mal.

Martin:
Sehr gerne! Also, ich verfolge mit großem Interesse so Podcast wie den deinen, aber auch verschiedene andere. Alles, was sich darum dreiht: Wie kannst du eigentlich innerhalb von Teams, innerhalb von unterschiedlichen Settings, effizient und für alle gewinnbringend miteinander arbeiten. Diese Themen nehme ich mit großem Interesse auf. Aber ich glaube, mir ging es häufig auch so wie vielen anderen. Wenn man so in der Corporate-Welt unterwegs ist, dann gibt es häufig einen Kontrast zwischen der angenommenen Realität von diesen Ratgebern und der tatsächlichen Realität, die man so jeden Tag im Büro vorfindet.

Es gibt grundsätzlich strukturelle Unterschiede zwischen großen Unternehmen und kleineren Start-Ups. Doch mit den richtigen Herangehensweisen und Best Practices hat man Möglichkeiten, in diesem Corporate-Setup tatsächlich erfüllend und gewinnbringend zu arbeiten.

Sebastian:
Realität versus Ratgeber und trotzdem was geschafft kriegen. Das geht doch ein bisschen auseinander. Du hast mir vorhin erzählt, dass es diesen Typen von Menschen gibt, der im Unternehmen arbeitet. Diese Persona Digitaler Enthusiast, und dass es da verschiedene Varianten gibt, welche Wege diese Personen einschlagen können?

In einem Konzern arbeiten 3 Typen von Menschen

Martin:
Absolut. Zunächst muss ich natürlich mit einem Disclaimer einsteigen. Alle Meinungen, die ich hier äußere, sind natürlich meine eigenen. Beispiele, die ich mache, beziehen sich jetzt auch gar nicht unbedingt auf meinen aktuellen Arbeitgeber oder meine aktuelle Firma, sondern sind allgemein anwendbar. Aber was ich schon häufig beobachtet habe, ist, dass viele, auch jüngere Menschen, in große Firmen einsteigen, mit einem tollen Drive, mit einer tollen Motivation, jetzt wirklich die nächste Generation der tollen digitalen Produkte voranzutreiben, auch wirklich ein Teil dieser Bewegung zu sein in der Digitalisierung, und dass sich dieser Drive und dieser Enthusiasmus doch sehr schnell abnutzt.

Gerade nach etwa zwei, drei Jahren, wenn das Trainee-Programm vorbei ist, sind ziemlich viele recht frustriert. Manche wechseln direkt den Arbeitgeber und hoffen, dass es beim anderen besser wird.
Der ein oder andere kündigt eher innerlich und arrangiert sich damit, dass man in so einem Setting ganz OK bezahlt wird, aber nicht unbedingt die berufliche Erfüllung findet.

Aber gleichzeitig sind mir auf meinem Weg aber auch immer Menschen begegnet, die in diesem Setup sehr gut funktionieren, und das obwohl sie sehr unterschiedliche Menschen waren. Das sind Menschen, die es tatsächlich schaffen, in einer großen Firma, trotz der ganzen Schwierigkeiten, die man dort haben kann, hocheffizient, hoch innovativ und mit einem Riesenspaß daran zu arbeiten.

Und ich habe mir über die Jahre vorgenommen, diese Menschen als Vorbilder zu nehmen. Das sind meine Mentoren, von denen ich gerne lerne, und sie sind mir die liebsten Kollegen. Mit ihnen zu arbeiten macht am meisten Spaß.

Ich habe diese Menschen beobachtet und versucht abzugucken: Was machen diese Menschen anders? Was verbindet sie?

Sebastian:
Das heißt, wir haben drei Typen von Personen, die in einem Konzern arbeiten.
Die Leute, die kündigen und den Job wechseln
Die Leute, die sich damit abfinden, dass sie nicht viel bewegen können in diesem Setting
Die Leute, die sich nicht damit abfinden und versuchen, ihren Enthusiasmus mit reinzubringen, um etwas zu bewegen und zu verändern.

Und jetzt gucken wir uns Typ 3 an: Diejenigen, die etwas verändern wollen und Dinge anpacken. Hast Du dazu ein Beispiel?
Ich bringe gerne das Beispiel von einem Handwerker. Es gibt den Handwerker, der einfach nur tut, was er tut, weil er dafür bezahlt wird. Und dann gibt es aber auch den Handwerker, der das macht, was er macht, weil er Bock darauf hat. Der eine Maurer legt Steine aufeinander, weil er dafür bezahlt wird, und der andere, weil er ein Haus bauen möchte.

Du hast sicherlich noch ein paar andere Beispiele dabei.

Was motiviert uns, bestimmte Tätigkeiten zu tun?

Martin:
Viele dieser Dinge lassen sich auf ganz einfache Motivationsmodelle zurückführen. Zum Beispiel das klassische Motivationsmodell mit Purpose und Mastery. Beim Purpose geht es darum, wofür ich eigenlich arbeite. Ich bin motiviert dadurch, dass ich weiß, wofür das eigentlich ist.

Mastery bedeutet, dass ich dadurch motiviert sein kann, in etwas gut zu werden.

Man sieht häufig, dass die Motivationen nach Purpose und Mastery höher sind als die Motivation des Geldes. Das heißt, innerlich möchte man erfolgreich sein.

Sebastian:
Und wie schaffe ich es dann jetzt, als Fisch im Wasser im Corporate zu überleben und trotzdem etwas zu bewegen und mich nicht mit dem abzugeben, was schon da ist?

Martin:
Als Erstes kann man sich ja mal fragen: Warum funktionieren eigentlich manche von diesen tollen Tipps in kleineren Firmen oder in Startups in bestimmten Setups sehr gut, und warum fällt es einem so schwer, dieselben Tipps in eine große Firma zu übertragen? Wo ist eigentlich der Unterschied?

Die Antwort auf diese Frage ist mir vor einer Weile wie Schuppen von den Augen gefallen, als ich angefangen habe, mich mit Komplexität und der Theorie hinter Komplexität zu beschäftigen.

Worin unterscheidet sich eine kleinere Firma von einem Konzern für die Arbeitnehmer?

Martin:
Der Grundgedanke ist erstmal, dass der Unterschied zwischen einer kleineren Firma und einer sehr großen Firma relativ naheliegend und ziemlich banal ist. Erst einmal liegt dieser in der Komplexität. Und wenn man jetzt überlegt: Wie ist ein komplexes System definiert? Und wie grenzt sich eigentlich ein komplexes System von dem komplizierten System ab? Dann sind es genau vier Dinge.

Ein komplexes System besteht aus Einheiten oder Agenten, die

In einem Maße voneinander abhängig sind,
unterschiedlich sind und eine Anzahl haben, in unterschiedlichem Maße,
die sich miteinander vernetzt sind. Auch in unterschiedlichem Maße.
Und die sich aneinander anpassen, also wo die Handlung des einen dazu führen, dass der andere etwas anders tut.

Und das ist auch immer so, zum Beispiel, was ich bringe. Eine analoge Uhr, eine mechanische Uhr ist wahnsinnig kompliziert. Sie ist aber nicht komplex, weil diese Anpassungen nicht stattfinden. Es sind unterschiedliche Teile drin, die miteinander zusammenhängen und vernetzt sind. Aber die Teile passen sich nicht aneinander an. Sie bleiben immer gleich.

Nun, wenn wir also wissen, dass eine kleine Firma wenig Komplexität bedeutet und eine große Firma viel Komplexität bedeutet, dann müssten wir doch wissen, dass es blöd sei, in großen Firmen zu arbeiten.

Ich sehe das aber nicht so, in keinster Weise. Komplexität bedeutet nämlich auch eine hohe Resilienz. Das heißt, man kann sich auf unterschiedliche Ereignisse besser anpassen. Komplexität bringt auch viele Dinge überhaupt erst hervor.

Das komplexe System ist hochgradig spannend und ist auch etwas, was wir in vielen Bereichen ja auch brauchen. Das heißt, wenn eine große Firma nicht komplex wäre in bestimmten Bereichen, dann hätte sie auch nicht dieselbe Leistungsfähigkeit.
Andererseits führt Komplexität aber auch zu Einschränkungen und Schwierigkeiten.

Deswegen muss man mal gucken: Wieviel Komplexität kann man in welchen Bereichen haben? Wo kommt die her und wie kann ich die managen?

Welche Herausforderungen bringt die Komplexität eines großen Unternehmens?

Ich erwähne gerne das Beispiel einer Landkarte. Hier stellt die Komplexität eine Herausforderung dar. Wenn ich mit Hilfe einer Landkarte, die Berge, Täler und Straßen anzeigt, einen Weg von A nach B plane, dann ist es vergleichsweise einfach, einen sehr effizienten Weg zu planen, der einfach durchs Tal führt, wo ich nicht besonders viele Höhenmeter dazwischen habe.

Das wäre das Pendent eines komplizierten Systems, wie der mechanischen Uhr zum Beispiel. Aber es wäre nicht das Pendant des komplexen Systems. Denn beim komplexen System würden sich nämlich die Berge ständig verändern. Sie würden nach oben und nach unten gehen. Die Straße wäre mal links und mal rechts. Das heißt, ich habe das Problem, dass sich in so einem komplexen System die Zusammenhänge ständig ändern und ich dementsprechend viel größere Schwierigkeiten habe, zu planen.

Und das ist etwas, das man in großen Firmen häufig beobachtet. Ich fange an, an einem Projekt zu arbeiten, schaffe die Grundlagen, und auf einmal stelle ich fest, die Firma macht jetzt einen Hiring Freeze in einem bestimmten Bereich, und deswegen können da aktuell keine zusätzlichen externen Ressourcen aufgebaut werden. Hätte ich das bloß vorher gewusst. Nun muss ich wieder umplanen.

Wenn man sich also Bewusst macht, dass eine große Firma komplexer ist als eine kleine, fällt es einem leichter, an den richtigen Stellen anzupacken. Denn Komplexität ist nichts Böses. Komplexität hängt an Stellschrauben, an denen ich in Maßen auch drehen kann, oder wo ich mich vielleicht auch an Orte begeben kann, wo diese Stellschrauben für mein Projekt und für das, was ich tun will, gerade günstig sind.

Sebastian:
Als Du mir das erste Mal von der Komplexität erzählt hast, erinnerte es mich an diese VUCA-Welt, also die volatile, unsichere und komplexe Welt und die Ambiguität-Welt, wo sich alles Mögliche heutzutage ändert und sich deswegen die Märkte, an die die Unternehmen sich anpassen müssen. So ein Markt ist halt komplex, und deswegen muss ich mich als Unternehmen anpassen. Und das mit den Bergen finde ich eigentlich ein megageiles Beispiel. Man könnte jetzt sagen: Berge können sich nicht ändern.

Aber eine Routenplanung ist kompliziert, weil ich gucken muss, welche Straße ich nehme, welche Reichweite ich habe, wo ich tanke, bei Langstrecken wo ich dann Rast mache. Da ist nichts Komplexes dran.

Aber ich würde sagen, in der echten Welt wird so eine Route schnell komplex. Nicht auf der Landkarte, aber auf der echten Straße. Denn diese kann plötzlich gesperrt werden, weil darauf ein Unfall passiert ist. Das führt zu Stau. Dann muss ich woanders lang fahren.

Also, die Berge ändern sich nicht, aber der optimale Weg ändert sich ja dauernd.

Martin:
Eine schöne Erweiterung, die Du da gerade noch mit reinbringst. Gerade, wenn eine Straße gesperrt ist, und die Autos, die alle von unabhängigen diversen Menschen geführt werden, sich aneinander anpassen. Wenn an einer Stelle Stau ist, fahren sie alle auf einmal ab und fahren über die Landstraße. Und dann entsteht da auf einmal Stau.

Sebastian:
Die Tanke wundert sich, warum auf einmal der ganze Kaffee ausverkauft ist und es sich an den Zapfsäulen staut, weil auf einmal Leute daherkommen, die sonst nie hergekommen sind. Und dann passen sie sich an. Und dann ist da der Sprit leer. Dann muss der ADAC rauskommen, weil da alle Leute liegenbleiben. Das kann man ja beliebig erweitern.

Wir leben in einer komplexen Welt, kann man schon sagen.

Wir leben in einer komplexen Welt

Martin:
Absolut. Man kann auch ganz klar sagen, dass die Komplexität beständig zunimmt. Zumindest hat sie in den letzten Jahren stark zugenommen. Wenn wir uns die vier Stellschrauben betrachten, stellen wir fest, dass gerade die Vernetzung extrem stark zunimmt.

Bleiben wir bei dem Staubeispiel: Ich habe schon häufig erlebt, dass die vom Navigationssystem vorgeschlagene Stau-Umfahrung hinterher zu noch größerem Stau führte, weil alle Autofahrer denselben Tipp kriegen von ihrem Navigationssystem. Das heißt, alle Autofahrer an dieser Stelle waren miteinander vernetzt.

Das hätte man zum Beispiel vor noch fünfzehn, zwanzig Jahren mit Sicherheit nicht gehabt.

Sebastian:
Stimmt. Guter Punkt. Hätten die Leute die Karte lesen können und die Karte navigieren können oder vielleicht noch einen Navigator auf dem Beifahrersitz, dann hätten sie reagieren können. Die anderen wären einfach im Stau stehen geblieben und hätten gewartet, bis es weitergeht.

Martin:
Und das war die Zeit, wo ich mich tatsächlich noch auskannte und nicht immer nur auf mein Navi vertraut hab.

Sebastian:
Ja, aber auch nur in den Strecken, die du gefahren bist, und dann vielleicht mal hier oder da einen Schleichweg kanntest. Und wenn du dann jetzt komplex wirst und dann nicht nur ein, zwei Standorte aufsuchst, sondern verschiedene Firmenstandorte, verschiedene Bekannte, Verwandte etc. anfährst, dann wird es immer komplexer, und dann kennst du dich ja nicht mehr überall aus. Aber ja, das Navi nimmt uns vieles ab.

Martin:
Grundsätzlich muss ich sagen: Komplexität ist ein Thema, das hochspannend ist und was tatsächlich auch mir ziemlich stark die Augen geöffnet hat, auch warum beispielsweise Probleme entstehen, wo große Fehlschläge in Unternehmen herkommen und in anderen Bereichen. Das ist hochgradig spannend, aber führt jetzt gerade in eine ganz andere Welt.

Lässt sich Komplexität verhindern?

Martin:
Es gilt, zunächst einmal anzuerkennen, dass eine große Firma komplexer ist als eine kleine, und auch dass Komplexität nicht immer böse ist. Sie hängt an Stellschrauben und ist nicht überall gleich verteilt.
Eine große Firma ist nicht an jeder Ecke gleich komplex. Das sind die Bereiche, die ich gezielt nutzen kann.

Um die Komplexität möglichst gering zu halten, kann man das „Zwei Pizza Team Konzept“ anwenden. Das heißt, ein Team soll nicht größer werden, als dass man es mit zwei amerikanischen Pizzen satt kriegen würde. Wenn ein Team noch nicht so viele Akteure hat, ist die Kommunikation einfach.

Die Firma Amazon hat dieses „Two Pizza Teams“ Konzept angewendet.

Sebastian:
Genau, es wird gesagt, dass Jeff Bezos das eingeführt hat. Darüber habe ich in meiner Podcast-Folge zu effizienten Meetings erzählt. Danach ist ein Meeting nur effizient, wenn es nicht zu viele Akteure gibt, die da teilnehmen und Entscheidungen treffen müssen.

Martin:
Ich glaube zum Beispiel, dass der Jeff Bezos einer ist, der tatsächlich auch diese Komplexität-Geschichte zumindest implizit auch verstanden hat. Denn was er auch noch gemacht hat: Er hat gesagt, dass diese Teams jeweils über definierte Schnittstellen miteinander reden sollen. Das heißt, dass die nicht mehr direkt auf die Ressourcen innerhalb des Teams zugreifen, also direkt auf die Datenbank beispielsweise zugehen, sondern dass sie immer über diese definierten, nach außen spezifizierten Schnittstellen gehen müssen.

Jeff Bezos hat es auch ziemlich deutlich angesagt, nach dem Motto „Wer das nicht verstanden hat, der arbeitet lieber woanders“. Er hat es glaub ich noch ein bisschen direkter formuliert.

Und da steckt halt auch eigentlich wieder drin: Okay, ich vermeide Komplexität. Ich begrenze praktisch den Grad der Vernetzung auf bestimmte Punkte, und ich begrenze auch die Abhängigkeit der Akteure. Das heißt, eigentlich hat er an diesen Komplexitäts-Stellschrauben gedreht, um da effizienter zu werden.

Aber jetzt fragst Du mich natürlich: Wie machst du das eigentlich als Einzelperson, oder?

Sebastian:
Die Frage ist auch, hat er das dann reduziert, oder hat er es umgangen?

Oder hat er ein System geschaffen, um damit umzugehen? Du sagst ja, Komplexität ist ja gar nicht so schlecht. Wenn du das schon sagst, dann muss das der Jeff Bezos doch auch geschickt haben, oder?

(beide lachen)

Aber dann hat der Jeff halt gesagt: So pass auf, wir machen das jetzt so und wer nicht spurt, der fliegt.

Und wie mache ich das jetzt in meinem Team? Ich bin ihr Intrapreneur in dem Unternehmen, und wir als Unternehmen ticken nicht so. Was der Martin erzählt, ist ja schön und gut. Aber wie kann ich denn als kleiner Mann hier an meinem Schreibtisch da Einfluss nehmen?

Wie schaffe ich es als einzelner an meinem Schreibtisch Einfluss zu nehmen?

Martin:
Im Endeffekt ist es natürlich klar, wenn das dein eigenes Unternehmen ist und du da einfach so durchregieren kannst, ist das natürlich an der Stelle das perfekte Setup in dem Sinne. Man hat die gute Idee und man hat auch noch die volle Macht, das umzusetzen.

Aber diese Kombination ist halt selten, dass die perfekte Idee mit der universalen diktatorischen Herrschaft irgendwie zusammen geht.

Sebastian:
Und das dann noch mit den passenden Leuten im Unternehmen.

Martin:
Aber trotzdem glaube ich, dass, auch wenn man nicht derjenige ist, der beispielsweise die Organisationsstruktur verändern kann, dann kann man sich schon auch aus diesem Teamgedanken heraus überlegen: Hm, Wenn ich wirklich erfolgreich sein will in einem bestimmten Projektumfang, ist es sehr, sehr wichtig, dass ich nicht für jedes Thema, das ich innerhalb dieses Projektes habe, rausgehen muss und dieses an ein anderes Team geben muss, sondern, wenn ich irgendeine Chance habe, mir ein Team zusammenzustellen, zumindest virtuell, also Leute einzubeziehen von Anfang an, die gebraucht werden in den Themen, sodass ich nicht mehr so einen Übergriff habe, dass ich dann deutlich effizienter werde.

Und das habe ich auch schon in der Praxis häufig gesehen, wo in Projekten beispielsweise KollegInnen aus dem IT Security Bereich eingebettet waren, oder eingebettete KollegInnen aus dem Finanzbereich oder Tech-Bereich, Compliance.

Man hat also versucht, nicht das Team komplett da rein zu bringen, sondern Personen aus dem Team. Da war dann die Compliance Expertin direkt mit als Teammitglied in der Runde, und dann hat man schon auch wieder denselben Effekt.

Man hat die Komplexität dieser Abhängigkeiten reduziert, und man bringt das an einer Stelle zusammen. Aber auch selbst das ist vielleicht nicht unbedingt immer für jeden möglich.

Sebastian:
Ja, das ist schon ein Stück näher möglich. Anstatt zu sagen, wir stellen das jetzt so auf: Teamgrößen maximal die Größe, so laufen Meetings ab, kann ich natürlich das so machen. Ich kann die Leute dann mit einbeziehen, nicht eine ganze Abteilung und nicht alles vorwegnehmen, aber ich kann die Komplexität anders managen, indem ich die Leute dazu hole, das finde ich erst mal eine gute Strategie.

Jedes Große besteht aus etwas Kleinerem

Martin:
Eine weitere Sache, die ich ganz einleuchtend fand, als ich mich mit der Komplexitätstheorie beschäftigt habe: Jedes Große besteht aus etwas Kleinerem.

Jede große Firma besteht wieder aus kleineren Teams, besteht wieder aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an der Stelle sind.

Es ist eine so triviale Erkenntnis — so banal, dass ich mich fast nicht traue, es zu sagen. Aber es hilft, einem bewusst zu machen, dass jedes Verhalten, auch vielleicht jedes nicht hilfreiche Verhalten in einem Unternehmen, wie beispielsweise extreme Bürokratie und wie vielleicht nicht ganz so optimale Prozesse, sich wieder daraus ergibt, dass irgendwo wieder Interaktionen von Einzelnen waren.

Das heißt, im Endeffekt geht auch alles wieder zurück auf einzelne Menschen, die wieder miteinander gearbeitet haben oder nicht miteinander gearbeitet haben, oder miteinander interagiert haben, die sich wieder als diese unabhängigen Agenten praktisch miteinander vernetzt haben. Das heißt, all diese Tätigkeiten passieren lokal und wirken dann wieder global. Und deswegen habe ich dann auch für mich mehr und mehr festgestellt, dass es manchmal gar nicht so sehr hilft, sich mit der Gesamtstruktur und dem Gesamtunternehmen aufzureiben, sondern dass für mich eigentlich immer als Erstes im Mittelpunkt stand: Ich arbeite erstmal lokal.

Wenn man kann, versucht man schon zu schaffen, ein Lokal auszusuchen, das nicht so komplex ist.
In diesem Lokal schaut man dann aber wirklich: Was sind denn die Bedürfnisse des Einzelnen? Wie sind denn eigentlich die Interaktionen der einzelnen Menschen an der Stelle?

Jeder Mitarbeiter ist für den Erfolg des Unternehmens wichtig

Ich glaube, jeder hat schon mal einen Kollegen gesehen oder eine Kollegin gesehen, die auf den ersten Blick eine Verhinderungshaltung hat.

Ich kann nicht mehr zählen, wie viele von diesen Menschen ich kennengelernt hab. Aber aus diesem ganzen Setup heraus habe ich persönlich eine Philosophie entwickelt: Ich gehe nicht davon aus, dass es Menschen sind, die weniger wertvoll oder auch weniger wichtig für den Erfolg sind.

Wenn man sich überlegt: Was treibt diese Person jetzt gerade an? Wie handelt diese Person aktuell? Oder auf welcher Basis handelt diese Person? — Dann ist es häufig so, dass man vielleicht noch gar nicht drüber nachgedacht hat, was denn für diese Person an der Stelle drin ist.

Es kann also erstens so etwas ganz Simples, Banales sein wie Anerkennung und Wertschätzung. Gerade wenn man vielleicht auch als etwas jüngerer Kollege mit viel Drive und Energie versucht, Dinge umzuschalten, dann ist es das erste Mal, dass man so Reibungshitze ringsherum erzeugt.

Die Kollegen reagieren abneigend, nach dem Motto „Ja, aber was willst du Jungspund mir jetzt eigentlich erklären?“

Gut. So jung bin ich jetzt auch nicht mehr, aber ich habe es ein paar Jahre wirklich so erlebt.

Mir hat es geholfen, festzustellen, dass jede große Struktur aus kleinen Strukturen besteht und aus Menschen, und damit erst mal Dinge wie Anerkennung und Wertschätzung extrem hilfreich sind.

Ich sage halt immer: Jeder Mensch kann entweder dein Freund oder der Lehrer sein.

Selbst von den Leuten, die dir eigentlich erst mal sehr negativ gegenüberstehen, gibt es etwas, das du lernen kannst? Es gobt etwas, das du von denen wissen müsstest. Und viele von denen, den Menschen, denen ich in dem Kontext begegnet bin, waren tatsächlich Menschen, mit denen man ganz wunderbar arbeiten konnte ab dem Moment, wo geklärt war, dass man selber eine ehrliche, aufrichtige Wertschätzung ihnen gegenüber hat.

Jeder Mensch ist entweder dein Feind oder dein Lehrer

Sebastian:
Das ist geil. Cooles Statement. Jeder Mensch ist entweder dein Freund oder dein Lehrer. Das ist eine super Weisheit, um durch den Tag zu gehen, und hilft dann vielleicht auch manchmal, weil diese Menschen dir ja nicht zwingend was Böses wollen.

Aber vielleicht haben sie manchmal das Gefühl, ich möchte denen was Böses und hab keine Anerkennung, was die da bisher alles so Schönes aufgebaut haben und bisher alles schon gelernt haben. Und ich als Jungspund komme dazu und will das jetzt ändern.

Wenn man das rein sachlich behandeln möchte, ist es ja auch wieder Angst vor Komplexität.
Ich habe ja diesen Prozess und dieses Vorgehen und die ablehnende Haltung, um für mich in meinem Job, in meinem Tanzbereich, die Komplexität gering zu halten. Und wenn eine Anfrage kommt, habe ich Angst, dass sich etwas ändert und alles komplexer wird.

Martin:
Ja, absolut. Außerdem: Jeder Mensch möchte gerne von sich selbst gut denken, und jeder Mensch fühlt sich besser, wenn man ein gutes Selbstbild hat. Und das heißt, wenn man einem Menschen Gründe dafür liefert, gut von sich selbst zu denken, geht es diesen Menschen dann besser. Und wenn man dazu beigetragen hat, dass es einem Menschen besser geht, dann ist die Frage danach, ob man da nicht vielleicht mal irgendwie einen Fünfer gerade sein lassen kann und das nicht vielleicht doch irgendwie genehmigen dann meistens ganz anders beantwortet.

Sebastian:
Ist es nicht Manipulation?

Martin:
Ja, das kann man natürlich so denken. Aber was ich wichtig finde, ist der Punkt, dass es tatsächlich aufrichtige Wertschätzung sein muss. Wenn ich einfach nur versuche, jemandem irgendwie Honig ums Maul zu schmieren, das merken erstmal die meisten, und das ist meiner Meinung nach nur temporär erfolgreich.

Aber wenn man sich tatsächlich überlegt, dass das Gesamte aus Einzelteilen besteht, und alle Einzelteile wichtig sind, kommt man da automatisch hin.

Gib die ersten drei Bälle ab

Martin:
Diese Gedanken haben mich zu einem ganz pragmatischen Ansatz geführt, den ich mir selber halt immer wieder aufschreibe, damit ich ihn auf nicht vergesse:

Gib die ersten drei Bälle ab.

Ich meine damit: Du kommst irgendwo neu rein in einen Bereich und ergreifst die ersten drei Möglichkeiten, die du nutzen könntest, um deine Erfolge vorzuweisen und zu präsentieren, eben nicht, um dich selbst in den Vordergrund zu stellen, sondern um deine Kollegen zu loben: „Das hier möchte ich gern zeigen, und da möchte ich speziell auf Kollegin XYZ hinweisen, mit der wir das hier zusammen erstellt haben, ohne die das nicht möglich gewesen wäre …“

Also einfach mal den Ruhm für die ersten drei Möglichkeiten abgeben. Zahlt sich immer aus.

Sebastian:
Aber dann verlierst du ja dein Einstieg, oder? Bist du nicht dann derjenige, der neu kommt und sich beweisen muss? Ist das nicht ein Risiko? Denken die Kollegen dann nicht: „Der Neue, der da gekommen ist, kriegt ja selber gar nichts auf die Kette.“

Martin:
Das ist individuell. Ich sehe es nicht als Risiko. Denn diese drei Personen, die ich jetzt ins Rampenlicht gestellt habe, sind die drei Personen, die mir helfen werden, und vielleicht diejenigen, die mir überhaupt erlauben werden, irgendetwas hinzubekommen.

Es werden zumindest sehr kooperative Kollegen für ein tolles Projekt.

Wenn ich andersherum starten würde und mich von Anfang an in den Vordergrund stellen würde und die drei Personen vielleicht vor den Kopf stoßen würde, dann hätt ich eigentlich meine Grube schon halb geschaufelt.

Sebastian:
Dann hast du da weder einen Freund noch einen Lehrer, sondern du hast wirklich einen kleinen Zaun aufgebaut zu dieser Person, wenn nicht noch viel schlimmer. Du hast dann vielleicht deine ersten drei Bälle gesichert. Aber nachhaltig ist es nicht wirklich?

Die Unternehmenskultur erkennen

Martin:
Ein weiterer Punkt, den man meiner Meinung nach aus dieser Komplexitäts-Diskussion oder der ganzen Thematik ein bisschen ableiten kann, ist, dass sich aus komplexen Systemen häufig Strukturen und Verhalten ergeben, die man eigentlich aus dem Einzelnen, aus dem kleinen Teil nicht mehr ableiten kann. Ganz einfaches Beispiel ist Kultur. Wenn man eine Kultur innerhalb einer Bevölkerungsgruppe beobachtet, wäre es schwierig, diese Kultur an einer einzelnen Person festzumachen. Denn diese einzelne Person verhält sich vielleicht anders als die gesamte Gruppe, die gesamte Gesellschaft von Menschen.

Und so ist es tatsächlich so, dass komplexe Systeme wie auch Unternehmen durch ihre Interaktion miteinander, durch die Struktur, die sie haben, aber auch durch die Beteiligten eine Kultur entwickeln. Das ist, glaube ich, auch keine Neuigkeit. Dass sich dadurch aber auch eine Art entwickelt, sich selber Normen und Grenzen zu setzen. Es handelt sich hier um eine allgemein anerkannte Definition von „So machen wir das“.

Das ist ja das Paradebeispiel von Corporating. Wenn man sagt, „haben wir immer schon so gemacht“, kann man nichts ändern. Ich nenne das immer den Elefanten am Bambusseil.

Das ist auch schon ein ganz ausgetretenes Beispie, wo man von diesen Arbeits-Elefanten in Indien spricht, die als kleine Elefanten mit einer sehr starken Kette angebunden werden, und wenn sie groß sind tatsächlich einfach nur noch mit einem Seil an einem Bambusrohr bestgebunden werden, das sie eigentlich jederzeit zerreißen könnten.

Aber sie machen es nicht, weil Sie immer noch im Kopf haben: Ja, ich bin da angebunden. Ich bin hier begrenzt. Und sie probieren gar nicht aus, ob sie darüber hinaus können, obwohl sie so stark sind, dass sie einfach weglaufen könnten.
Dieses Beispiel verwende ich gerne, da sich Firmen durch ihre Kultur und ihre „Das haben wir immer schon so gemacht“-Einstellung auch solche Elefanten am Bambusstiel schaffen.

Es sind Dinge, bei denen man fragen kann: Warum sind die eigentlich so? Und warum müssen die eigentlich so bleiben?

Sebastian:
Dahinter steckt auch die Einstellung, die Muster, die man vor langer Zeit gelernt hat und wiederholt hat und die funktionieren, aus wirtschaftlichen Gründen beizubehalten. Der Elefant verschwendet keine weiter Energie mehr darauf, zu versuchen, abzuhauen, denn er hat gelernt: das klappt ja eh nicht.

Übertragen auf das Unternehmen: Das haben wir immer schon so gemacht. Also können wir es gar nicht mehr probieren, anders zu machen. Und wir werden auch keine Energie darauf verschwenden, es auszuprobieren. Wir haben ja nur etwas zu verlieren. Also haben wir irgendwann immer mehr Bambuspflöcke und schränken uns immer mehr ein.

Die Elefanten am Bambusrohr in einem Unternehmen

Martin:
Gleichzeitig habe ich schon häufig Diskussionen geführt, wo es dann hieß „Das können wir nicht machen. Da gibt’s eine Regel im Einkauf, die verbietet, dass wir das so und so machen“, obwohl man einfach sehr logisch argumentieren könnte: „Aber wirtschaftlich ist es eine gute Idee“.
Zum Beispiel ging es mal um Travel-Kosten. Bei dem Thema, ob man an einer bestimmten Veranstaltung teilnehmen sollte, hieß es, dass es dafür keine Genehmigung gäbe. Es sei gegen die Travel Policies.
Und ich fragte dann: „Welches deutsche Gesetzt verbietet einem Unternehmen, so zu handeln?“. Da hab ich staunende Augen gekriegt. Es gibt keins.
Wenn diese Veranstaltung wirklich wirtschaftlich und unternehmerisch sinnvoll ist, dann müssen wir einfach nur jemanden finden, der Prokura an der Stelle hat und die unternehmerische Entscheidung für eine Ausnahmeregelung treffen darf.

Nun hat vielleicht auch dieser Mensch das Bedürfnis, konsistent zu bleiben und die Regeln zu befolgen. Aber wenn der Case gut ist, dann habe ich noch nie erlebt, dass man da komplett auf taube Ohren stößt.

Wenn man einen sehr guten Business Case hat, dann ist es einfach, viele Dinge zu ändern.

Aber trotzdem ist es so, dass viele Mitarbeiter oder Teams gewisse Dinge gar nicht erst probieren, da sie in der Vergangenheit auch nicht funktioniert haben, und so an ihrem Bambusrohr angebunden bleiben.

Ich fass das dann so zusammen: In einer großen Firma muss man eigentlich immer damit rechnen, dass man mindestens dreimal Nein kriegt, meistens auch häufiger, aber mindestens drei „Neins“, dann zwei „Vielleichts“, um ein einziges Mal ein „Ja“ zu kriegen. Und das liegt einfach nur an diesem Elefanten am Bambusrohr.

Wenn man sich das so vor Augen führt, dann ist das auch nicht mehr so demotivierend, sondern dann nimmt man das einfach so hin.

Ok, es sind einfach noch drei Lehmschichten drüber, die muss man noch durchbohren. Aber wenn die Idee wirklich gut ist und ich dahinterstehe, dann kann das trotzdem klappen. Und wenn dann so was tatsächlich klappt, dann hat das auch ganz interessante Effekte. Weil es die Wahrnehmung von dem, was geht, und die Wahrnehmung von „Wie ist die Kultur und was sind die Normen und Grenzen“ tatsächlich verschieben kann.

Sebastian:
Weil ich beobachte, wie ein Elefant nebenan einfach mal abhaut und dann merke „Oh, haben wir immer schon so gemacht, aber irgendwie macht er das mal anders, und das geht“

Unfreeze, Change, Freeze

Martin:
Du hast diesbezüglich mal ein sehr interessantes Modell erwähnt mit diesem „unfreeze, change, freeze“.

Sebastian:
Genau, das dreischrittige Change-Modell, wo man einen Zustand erst einmal auflösen muss oder unfreezen, dann etwas ändern muss und das dann wieder einfrieren muss, um es dann wieder stabil zu machen.

Martin:
Im Endeffekt sehe ich das da an der Stelle nämlich auch so und man kann dieses Modell als Tipp mitnehmen. Also, man kann auch wieder Elefanten an Bambusrohren anbinden. Nicht, dass ich das jetzt mit einem echten Tier tun wollen würde. Ich nenne das immer das Normative des Faktischen. Also, in dem Moment, wo man wieder einen Fakt geschaffen hat, wo man vielleicht auch mal recht pragmatisch, einfach durch einen Konsens oder auch durch ein durch Management Commitment an verschiedenen Regeln vorbei konnte, dann hat man auch wieder eine Möglichkeit, zu sagen: Okay, das ist jetzt passiert. Das ist so gelaufen. Und wenn das so gelaufen ist, dann besteht lustigerweise eine extrem hohe Tendenz, dass das in Zukunft auch so laufen kann. Und das ist ja wieder das gesetzgebende des Faktischen. Ich habe einen Fakt geschaffen, also wird dieser Fakt auf einmal die neue Norm.

Und das kann man ehrlich gesagt auch gezielt steuern, indem man versucht, möglichst unter dem Radar vielleicht mal einen kleinen MVP laufen zu lassen.

Du kannst an einer kleineren Stelle etwas ausprobieren und verändern. Und später habe ich bei einem großen Projekt in dieselbe Richtung mehr Bewegungsspielraum. Auf einmal wird es gar nicht mehr als so absurd betrachtet. Denn nach dem Prinzip des Normativen des Faktischen habe ich bereits Fakten geschaffen.

Sebastian:
Das Modell ist übrigens von Kurt Lewin, das Change Management Modell: „unfreezing, changing and refreezing“. Dem Elefanten ist es ja dieses Bambusrohr ein sicherer Hafen. Wenn du ihm dieses Rohr wegnimmst, verliert er seine Sicherheit und seinen Mittelpunkt. Wenn Du den Elefanten in die Freiheit rauslässt, wird er sich in einem Chaos-Zustand befinden und sich unsicher fühlen. Nun musst Du diesen neuen Zustand aber festigen und dem Elefanten neue Sicherheiten und ganz anderen Umständen geben.

Das ist nämlich dann der Ansatz, einfach Dinge zu machen und damit Tatsachen zu schaffen und nicht nur so „Wir lösen das jetzt auf und proklamieren, dass es so sein wird“, sondern wir tun es einfach und gehen mit einem Beispiel voran und zeigen, dass nichts passiert und das es gut ist. Das finde ich unglaublich wichtig. Ich hatte mal so ein Szenario. Da wurde mir gesagt, dass ich mit der Idee gar nicht weiter gehen brauch, denn damit käme man einfach nicht durch.

Warum? Dann hat eine andere Kollegin, die noch jünger war, gesagt „Na, weil das muss ja durch den Betriebsrat, die sagen dann Nein“ — Ok. Warum? „Ja, weil das ist Datenschutz, blablabla.“ Da habe ich vielleicht noch einmal „warum“ gefragt, aber ich habe mich dann abwimmeln lassen. Irgendwann habe ich dann gedacht: So, ich kann ja jetzt nicht hier mich bremsen lassen von einer Ausrede, dass der Betriebsrat nein sagt, obwohl ich nie beim Betriebsrat war und noch nie mit mir gesprochen habe und gar nicht weiß, wie die überhaupt ticken. Und hab mir dann zum Ziel gesetzt:

Ich werde alles mit „5 times Why“ (5 Mal Warum) immer tiefer hinterfragen, bis ich dann zu dem Punkt komme, wo Du dann bist, Martin. Gibt es denn da ein Gesetz zu, dass es das verbietet?

Meistens gibt’s das nicht. Klar gibt es Regelungen. Da muss man aufpassen, da muss man sich dran halten. Dafür hilft einem der Betriebsrat aber auch. Der legt einem ja keine Steine in den Weg, sondern will nur helfen, dass man sich an das Recht hält und dass dieses auch umgesetzt wird. Und seitdem bin ich auch voll dabei und sage „Da waren so viele Bambuspflöcke in dem Raum, als ich da war, und da war ich auch angepflockt auf einmal. Das ist mir gar nicht bewusst geworden. Da wurde mir automatisch diese Schlinge umgelegt, und ich wurde quasi ein Elefant, der am Bambus war.“

„Das haben wir schon immer so gemacht“

Martin:
Was man natürlich fairerweise dazusagen muss: Nicht alles, was man machen kann, sollte man auch tun. Es gibt auch Dinge, die sehr legal sind, die ich selber mit meinen Werten nicht vereinbaren kann. Aber trotzdem sind die Handlungsspielräume einfach deutlich größer, als man manchmal so annehmen möchte. Und ehrlich gesagt, wenn ich kleinere Firmen anschaue, wenn ich mir Startups anschaue, da habe ich oft das Gefühl, dass da einfach noch nicht so viel festgesetzt ist.

Da gibt’s noch nicht so viel „haben wir schon immer so gemacht“, denn „Immer“ ist halt noch nicht so lange her.

Sebastian:
Das stimmt, das „Immer“ ist noch nicht so lange her. Und als Einzelkämpfer, als Intrapreneur, als junger, dynamischer Bursche oder Girl im Unternehmen. Wie schafft man das dann da? Dieses „Immer“ ist ja manchmal schon lange länger her. Wie kommt man denn da zurecht?

Martin:
Als Erstens, indem man seine eigene Annahme, was geht, nicht durch diese Aussagen einschränken lässt. Wenn ich mir mal wirklich denke: Ja, diese Menschen ticken so, und die sind trotzdem wertvoll und verdienen es auch, wertgeschätzt zu werden. Aber das heißt trotzdem nicht, dass mich dieses Bambusrohr an dieser Stelle festhalten kann.

Auch wenn diese Person keine schlechte Person ist, können wir es trotzdem anders machen.

Man beobachtet auch immer dieselbe Welt. Aber die Art, wie man sie bewertet und die Art, wie man sie einschätzt, ändert sich ziemlich stark. Und ich bin ein großer Verfechter davon, dass das, was man denkt, was möglich ist, ganz stark auch bestimmt, was möglich ist. Und das ist wirklich ganz pragmatisch. Wenn ich der Meinung bin, dass das der Betriebsrat so etwas genehmigen könnte, dann werde ich das durchzusetzen probieren.

Dann werde ich mit den Kolleginnen und Kollegen dort sprechen und meine Idee vorbringen. Natürlich muss man dann schauen, wie man vielleicht Kompromisse findet. Aber ich werde da dran gehen, wenn ich von vornherein denke „Nee, das ist Betriebsrat — völlig unmöglich. Keine Chance“, Dann begrabe ich das Ding, bevor ich es überhaupt ausprobiert hab. Genau, wie Du meintest.

Sebastian:
Es ist ein Mindset-Thema. Ich muss dran denken, hast du ja selber gesagt. Wenn ich daran denke, dann geht es auch — klar im rechtlichen Rahmen, und manchmal geht einiges dann doch nicht.

Aber wenn ich es erst gar nicht denke und selber gar nicht an die Sache glaube, dann scheitert es, weil ich es noch nicht mal ausprobiere.

Wenn etwas nicht funktioniert, geht die Welt nicht unter

Sebastian:
Ich meine, was ansonsten natürlich auch immer hilft, ist das Bild vom Sandkasten. Das nutze ich ja auch immer sehr gerne. Man geht einfach jeden Morgen in seinen Sandkasten, so wie man es als Kind gemacht hat, und baut eine wunderschöne Burg. Man hat richtig viel Spaß daran, diese Burg zu bauen, mit Ehrgeiz, dass man die schönste und tollste Burg baut. Aber wenn dann einer über die Burg drüber läuft, dann wird halt maximal mit Förmchen geschmissen. Aber gravierender wird’s nicht.

Und das ist vielleicht auch mal ganz hilfreich, glaube ich, dass man jetzt nicht überall gleich den Weltuntergang und das Ende der Karriere sieht, sondern dass man, solange man mit Respekt und mit Wertschätzung miteinander umgeht, auch in vielen Bereichen mal Dinge nicht funktionieren müssen.

Ich glaube 80 Prozent aller Start Ups scheitern relativ schnell im ersten Jahr. Hast du aktuelle Zahlen im Kopf?

Sebastian:
Ich habe da nur persönliche Erfahrungen. Es müssten viel mehr als 80 Prozent sein.

Martin:
Es ist auf jeden Fall eine sehr hohe Zahl. Und in einem großen Unternehmen? Auf dem Papier scheitern relativ wenige Projekte innerhalb von Firmen. Meiner Erfahrung nach wird sehr selten gesagt „Oh, dieses Projekt war jetzt aber ein Fehlschlag, hat jetzt nicht das erreicht, was wir wollten“. Wenn, dann wird meistens irgendwie noch nachgebessert, und dann ist es trotzdem ein Erfolg.

Aber trotzdem zeigt uns das Beispiel der Start Ups, wie viele Projekte scheitern. Dieses Wissen kann man für die eigene Erwartungshaltung nutzen. OK, wenn eine von fünf Elefantenlosbindeaktionen klappt, dann bin ich immer noch absolut in dem Bereich, den man erwarten kann, und in dem Bereich, der auch normal ist. Ich meine, dass nicht immer alles sofort funktioniert, das ist halt auch klar. Da unterscheiden sich meiner Meinung nach große und kleine Firmen überhaupt nicht.

Sebastian:
Und das ist auch das, was ich erfahrungsmäßig gesammelt habe bisher in Unternehmen und Konzernen. Das ist ja dann das, was Fehler oder Lernkultur ist. 20 Prozent kommen durch und die anderen 80 Prozent scheitern halt einfach. Die schaffen es nicht, profitabel zu werden, durchzukommen, weiter zu bestehen. Und im Unternehmen ist es halt nicht so. Da wird das ungerne gesehen.

Dieses Mindset hilft einem sehr weiter: Wenn vier von fünf nicht klappen, bin ich immer noch voll im Schnitt. Wenn irgendwie 40 nicht klappen und erst einer klappt, dann bin ich entweder in einem hoch risikobehafteten oder innovativen Bereich, und es ist einfach so angelegt, oder ich sollte spätestens dann mal anfangen, zu überlegen: Vielleicht mache ich die falsche Sache, oder ich passe nicht zum Unternehmen, oder mein Ansatz passt nicht ins Team oder sowas. Aber sonst total normal. Die Welt geht nicht unter. Die Burg ist kaputt, und ich kann nochmal eine neue aufbauen. Schönes Bild.
Martin:
Absolut. Vor einigen Jahren hat mir ein sehr erfahrener Kollegen, ein sehr erfahrener Manager und Architekt mal den Hinweis gegeben „Martin, macht dir nicht zu viel nen Kopf, wenn es tatsächlich mal irgendwie so sein sollte, dass irgendwas gar nicht funktioniert. Es kann sein, dass es tatsächlich ein Projekt ein riesiger Fehlschlag für Dein Unternehmen war. Und das ist natürlich etwas, was du versuchst, zu vermeiden. Und das ist natürlich etwas, wo du mit Herzblut dran arbeitet, dass das nicht passiert. Aber wenn das so ist, kann es trotzdem für dich persönlich immer noch ein Riesenerfolg sein, weil du dabei etwas gelernt hast.“

Sebastian:
To the point. Ja, genau, sehe ich auch so.. Ja, cool! Wir haben jetzt viele Punkte angeschnitten. Gibt es noch etwas, was du loswerden möchtest?

Die Vorteile eines Konzerns genießen und trotzdem kreativ sein

Martin:
Mir ist es ein Anliegen den Menschen Mut zu machen, die etwas Angst haben, in große Firmen zu gehen. Insbesondere von Entwicklern und Entwicklerinnen höre ich oft „Kann ich denn da überhaupt noch so aktiv sein? Finde ich da so ein Engagement, indem ich wirklich noch was reißen kann?“

Ja, das geht tatsächlich. Und wenn man diesen Weg gefunden hat, auf Basis von Wertschätzung und auch auf Basis von der Kenntnis, wie ich die Komplexität manage, dann kann gerade auch so eine große Firma eine super spannende Plattform sein, um beruflich extrem erfüllende Dinge zu tun und auch ganz, ganz viele neue, innovative Dinge auszuprobieren.

Die klassischen Vorteile von Corporate Jobs wie Sicherheit, gutes Gehalt und gute Benefiz, müssen nicht komplett ausschließen, dass man auch Freiheit und Kreativität haben kann wie in einem Start Up.

Sebastian:
Es kann also passen, da sollte man sich nicht vor verschließen, sagst Du?

Martin:
Nee, absolut. Ich denke, da gibt es Möglichkeiten, aber die gibt es auch nicht frei Haus. Wie gesagt, mit dieser Komplexität muss man umgehen. Der muss man sich bewusst sein.

Sebastian:
Da muss man sich zurechtfinden. Was da vorzufinden ist, muss man wahrnehmen und darauf reagieren und nicht einfach stumpf sein Programm durchziehen, wie man es in einem eigenen Projekt, Einzelprojekt machen würde, sondern da muss man ein bisschen interagieren. Das ist so die Anleitungen, die ihr heute dazu bekommen habt. Die könnte euch ein bisschen dabei helfen, wobei wir natürlich nur die Oberfläche angekratzt haben.

Ich glaube, vieles haben wir selber, ohne jetzt konkrete Projekte genannt zu haben, selber schon mal erlebt, ein oder zweimal, und schon selber überlegt und gelernt, wie man es denn besser machen kann, um dem Unternehmen zu helfen und uns selber damit klarzukommen.

Und ich finde das unglaublich spannend, sich darüber auszutauschen. Denn man ist hier kein Einzelkämpfer. Man kann virtuelle Teams bilden. Man kann sich mit anderen Leuten, die ähnlich ticken, zusammentun. Du hast es vorhin schon mal „Movers und Shakers“ genannt, mit den Leuten, die auch in die Richtung denken, versuchen, etwas zu bewegen. Dem Unternehmen unter die Arme zu greifen aus einer anderen Richtung, außer aus der Richtung, wo es bisher die letzten dreißig, fünfzig, hundert Jahre gehandelt hat.

Und das sollten wir uns alle bewahren und diesen Ehrgeiz auf jeden Fall aufrechterhalten. Vielen Dank, dass du da warst, Martin. Vielen Dank für unser Gespräch. Hat super Spaß gemacht. Ich hoffe, ihr konntet etwas mitnehmen. Hinterlasst uns gerne einen Kommentar, was euch am besten gefallen hat oder wozu ihr vielleicht noch etwas hören möchtet.

Und bis zum nächsten Mal.

Euer Guerrilla Coach, Sebastian

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